Freitag, 7. Oktober 2016

Gastbeitrag: das Reiterdenkmal im Tuttlinger Stadtgarten

Der folgende Text wurde dankenswerterweise von Hellmut Dinkelaker zur Verfügung gestellt. Aktuelle Bezüge im Text beziehen sich auf das Jahr 2013, in dem der Text aufgeschrieben wurde:

Was der Film ‚Casablanca’ und das Reiterdenkmal im Tuttlinger Stadtgarten miteinander zu tun haben…

Wenn in diesen Wochen erneut über die Zukunft des Tuttlinger Stadtgartens diskutiert wird, wenn der Kneipenpavillon verschwindet, dessen Beseitigung durch eine Übergangsphase als Gelber Würfel mit Informationsfunktion für den Masterplan noch ein wenig hinausgezögert wurde, dann erscheint es wichtig, sich der Geschichte des Platzes und des Denkmals, nach dem er über viele Jahrzehnte genannt wurde, bewusst zu werden.

Filmplakat Casablanca (1)
Der ‚Denkmalplatz’ wurde im Juni 1892 angelegt und die Donau wurde dafür eigens zwischen Bahnhof und Stadtzentrum verlegt. Zwei konkurrierende Denkmal-Komitees, eines in Stuttgart unter der Leitung von Prinz Hermann von Sachsen-Weimar und eines in Tuttlingen, hatten in den 80er Jahren des 19.Jahrhunderts aufgerufen zu Spenden, um eines Amateur-Dichters zu gedenken, der kaum eine handvoll Gedichte geschrieben hatte, die meiste Zeit in der Schweiz lebte und mit 30 Jahren verstarb. Dass jener Max Schnekenburger aus Thalheim bei Tuttlingen der Vers-Dichter des Liedes von der „Wacht am Rhein“ war, wusste lange Zeit niemand, aber das Lied war so bekannt und vor allem auch musikalisch so mitreissend, dass es im 1870er Krieg gegen Frankreich eine Art heimliche Nationalhymne wurde. Bismarck soll 1893 gesagt haben, das Lied (auf den Lippen der vorwärts stürmenden Soldaten) habe damals den Wert mehrerer Armeekorps aufgewogen. Einen Gänsehaut auslösenden Eindruck von der Kraft dieser Art „Volks-Lieder“ kann man bekommen im Film Casablanca mit Humphrey Bogart, wo in einer Kneipe im noch-freien französisch besetzten Casablanca erst eine Gruppe betrunkener deutscher Soldaten und Zivilisten das Lied von der Wacht am Rhein anstimmt, bis dann die anderen Gäste, die Kellnerinnen und Asylanten die Marseillaise anstimmen und die deutschen Unsympathlinge sozusagen im Sängerwettstreit überstimmen. Beide Hymnen übrigens schenken sich textlich nichts, was Blutrünstigkeit und dumpfen Nationalismus angeht…

Tuttlingen hatte ja – außer jenem legendenhaften Rotgerbergesellen, der als ‚Kannitverstan’ eine gewisse Berühmtheit erlangte – keine Persönlichkeit vorzuweisen, die es irgendwie zu nationaler Bekanntheit gebracht hätte.
Da kam der Max Schnekenburger, obzwar aus Thalheim, gerade recht. „Damit hatte das provinzielle Tuttlingen einen hinreichend würdigen Repräsentanten, in dessen Verehrung die Stadt die Idee des durch den Krieg gegen Frankreich und unter Preußens Krone geeinten Reiches aneignen und in eine ferne Zukunft hinein tradieren konnte“,  wird Friedemann Schmoll, Augsburg/Jena,  zitiert.

Germania 1892 (2)
Jedenfalls wurde genug Geld gesammelt und 1892 konnte mit der Einweihung des Denkmalplatzes auch eine über 6m hohe bronzene Germania-Statue enthüllt werden, die fortan als „theatralisches Monument nationaler Gesinnung“ (Geschichte der Stadt Tuttlingen 1997) diente.
Die dafür neu angelegte Kaiserstrasse läuft direkt auf das Monument zu, sie wird flankiert von Bismarck-, Moltke-, Friedrich- und Werderstrasse (General Werder hat 1870 Straßburg erobert), und nach dem Prinzen von Sachsen-Weimar wird die Weimarstrasse benannt, eine Bismarck- und eine Moltke-Eiche werden auf dem Platz gepflanzt. Die Anlage wird noch ‚bekrönt’ von den Eckhäusern Kaiserhof und Rheinischer Hof.
Es gibt wenig Erkenntnisse über den Denkmalplatz im Laufe der weiteren Jahre, aber 1911 soll hier zum ersten Mal im großen Stil eine elektrische Illumination des ganzen Platzes stattgefunden haben, was große Menschenmassen abends zum Flanieren im ganz neuen, gleißenden Elektro-Licht auf den Platz gebracht habe.

Schon 1918 war nicht nur die Denkmalsherrlichkeit zu Ende, als die Germania für den schon verlorenen Krieg eingeschmolzen wurde. Der Wilhelminismus war fertig, nicht aber, wie man im Lauf des 20.Jahrhunderts sehen sollte, nationalistisches Gedankengut.
Um 1930 herum stellten Mitglieder des Tuttlinger Heimatpflegevereins Überlegungen darüber an, wie man an gleicher Stelle wieder ein Denkmal für Max Schnekenburger und sein Lied errichten könne. Der Stuttgarter Akademieprofesser Fritz von Graevenitz wurde beauftragt. Graevenitz war ein im 1. Weltkrieg schwer verwundeter Bildhauer, der seine Lektion gelernt hatte, wie seine Tochter berichtete. Irmgard Bosch leitete auf der Stuttgarter Solitude ein Graevenitz-Museum und sollte später im Zusammenhang mit der Tuttlinger Skulptur noch eine Rolle spielen.


Graevenitz entwarf ein Gipsmodell, das drei Reiter darstellt, die in unterschiedlichen Haltungen im Galopp in eine Richtung reiten. Bei Crailsheim in einem Steinbruch erwarb er einen hohen schmalen Muschelkalkblock, aus dem dann die Reitergruppe entstand, die heute noch im Tuttlinger Stadtgarten steht. 1940 wurde sie aufgestellt, es gab keine Einweihung, sei es, weil man gerade mit anderen Dingen beschäftigt war (Frankreich überfallen) oder weil das Werk den damals in Tuttlingen regierenden Nazis zu unheroisch, zu wenig kämpferisch war.
Man sieht drei etwa lebensgroße, gänzlich nackte junge männliche Reiter auf galoppierende Pferden, auf einem Sockel, der als aufgewirbelter Staub gedeutet werden kann. In der Mitte ein aufgerichteter Mann, der nach links blickt und den Mund geöffnet hat. Er scheint etwas zu rufen, sitzt tadellos auf dem Pferd, das sicher vorwärts ausgreift. Vorne ein weit über den nach unten gebogenen Pferdehals gebeugter junger Mann, fast artistisch oder wagemutig sich haltend oder gerade dabei, über das sich vergaloppierende Pferd nach vorne zu stürzen. Hinten ein weiterer junger Mann, der eine Buckel macht, als ob er das Pferd heftig am Zügel reisst, um es zu zügeln. Apropos Zügel: man findet keinerlei Andeutungen von Zügeln, Steigbügeln, Sporen, gar von Militärischem. Es könnten auch drei junge Reiter auf halbwilden Pferden in der Camargue sein. Sie reiten nach Westen, also wohl schon zum Rhein, den Max Schnekenburger als eherne deutsche Grenze sah. Der Muschelkalk dieser Skulptur ist je nach Witterung beige oder grau, er zeigt Spuren der Zeit, gehört mal wieder vorsichtig abgestrahlt. Auf dem von vorne gesehen überraschend schmalen Werk ist eine kleine Tafel angebracht, die an Max Schnekenburger und sein Lied erinnert. Die Blumenanlage kreisförmig drumherum, die die Stadtgärtnerei immer wieder schön gestaltet, verhindert den direkten Zugang vom rundum verlaufenden Kalkweg, an dessen Rändern Bänke zum Verweilen einladen. Das Reiterdenkmal steht mitten im Platz, die Wegeanlage ist geometrisch rechtwinklig geordnet im Stil des Klassizismus,  allerdings wurde irgendwann der Macht des Faktischen nachgegeben und eine Diagonale vom Sängersteg zu den Bushaltestellen Richtung Bahnhofstrasse angelegt, weil die vielen Schüler jeden Tag hier eben so laufen.

Sind der Platz und das Denkmal nationalistisch, ist es gar Nazi-Kunst, kann oder sollte man es in eine Ecke setzen, ganz loswerden? 

Zunächst ist es historisch aufgeladen, erinnert an Zeiten, in denen – erklärlich wie unerklärlich – Feindschaft herrschte zwischen Deutschland und Frankreich, in denen Krieg als Mittel der Politik salonfähig war. Es verweist auf ein Stück Stadtgeschichte, wo man wegen eines einzigen Liedes die Donau verlegte, Straßen anlegte und benannte, wo man zivilisatorischen Fortschritt feierte. Und es ist als Skulptur aus dem Dritten Reich  in einer merkwürdig zivilen Weise gestaltet, die so gar nichts mit „Schwertgeklirr und Wogenprall“ zu tun hat, wie der Text, an den sie erinnern soll. Eine Art lyrischer Realismus, wie oft im Werk von Graevenitz.
Fritz von Graevenitz (3)
Dieser Künstler war, so ist aus einem Vortrag seiner Tochter Irmgard Bosch aus dem Jahr 1989, zu verstehen, hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf ein neues Deutschland unter Hitler, den er 1935 portraitierte, und der Ablehnung des Krieges und seiner Folgen. 1940 war eine Figur von Graevenitz’ im Haus der Deutschen Kunst in München zu sehen und es ist fast schon rührend zu lesen, dass die Tatsache, dass der nackte Jüngling mit Schwert die eine Hand begütigend nach vorne ausstreckt während sein Schwert seitlich gesenkt mit der Spitze auf dem Boden steht, für Graevenitz schon eine fast wagemutige Aussage war in einem Deutschland, das damals gerade mehrere Nachbarländer überfiel. Dass Künstler wie Maillol, die Graevenitz verehrte, unter den Nazis als ‚entartet’ diffamiert wurden, muss ihn sehr verstört haben.
Immerhin war Graevenitz bis zum Kriegsende Direktor der Kunstakademie Stuttgart und wurde dann von der Kultusverwaltung unter der Militärregierung eingesetzt um einen Wiederanfang der Akademie zu organisieren. Da sich aber die neuen Kräfte, d.h. vor allem die Künstler der Abstraktion, die jedwede Figürlichkeit und jeden Realismus erstmal aus guten Gründen ablehnten, formierten, sah er für sich keinen Platz mehr im Akademiebetrieb. Graevenitz wurde auch gleich nach Kriegsende in den ersten Notgemeinderat in Gerlingen berufen, was dafür spricht, dass er nicht nationalsozialistisch ‚belastet’ war.

Insofern ist das Reiterdenkmal und auch dessen Schöpfer sicher ein Anlass, die komplexe Geschichte Deutschlands so klar und so differenziert, wie sie es verdient hat, zu studieren. Schon deshalb sollte man sich in Tuttlingen im Bewusstsein der geschichtlichen Bedeutung mit dem Denkmalplatz und dem Denkmal angemessen beschäftigen, statt es irgendwo in die Ecke und den Platz als solchen in Frage stellen.

1986 konnte der Verfasser dieser Zeilen mit engagierten Schülern eines Kunst-Grundkurses am IKG ein Projekt starten, dessen Ergebnis die Verhüllung (a la Christo) des Reiterdenkmals war. Nach umfangreichen Recherchen und künstlerischen Entwürfen verpackten die etwa 20 Oberstufler und ihr Lehrer das Denkmal mit einer weißen Plane. Der damalige Heimatmuseumsleiter Karl-Heinz Müller begleitete die Aktion distanziert wohlwollend und die anschließende lebhafte Zeitungsdiskussion und historische Aufarbeitung war für die Beteiligten unerwartet und lehrreich. Leider rissen Unbekannte nach wenigen Tagen die Plane weg und die Aktion musste beendet werden bevor man sich richtig damit auseinander setzen konnte. Im Laufe der Recherchen waren die Schüler über Kontakte zu Graevenitz’ Tochter Irmgard Bosch auf die Verwandtschaft des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu seinem Onkel Fritz von Graevenitz gestossen. Da Richard von Weizsäcker 1920 geboren wurde, hätte es durchaus sein können, dass er  für das Reiterdenkmal seinem Onkel Modell gestanden bzw. gesessen hatte, so war die Spekulation. Man schrieb also einen wohlgesetzten Brief an den Bundespräsidenten mit der entsprechenden Frage.
Etwa eine Woche später wurde der Lehrer von der aufgeregten Schulsekretärin gerufen – ein Brief vom Bundespräsidenten!. Mit spitzen Fingern wurde der Brief geöffnet, schweres Papier, Prägedruck, ausführliche Antwort: nein, er könne mit Sicherheit sagen, dass er damals nicht  Modell für das Reiterdenkmal gestanden sei. Aber er fände das Projekt sehr interessant und wünsche gutes Gelingen. Schade, Tuttlingen hätte mit dem Schnekenburger-Denkmal auch ein Bundespräsidenten-Denkmal gehabt…
Im Rahmen einer Kunstaktion von Karlsruher Akademiestudenten anlässlich der Trilogie Stadt-Park-Fluß 2003  wurde das Schnekenburger-Denkmal wieder Thema: ein Künstler baute einen hohen Lattenzaun tonnenartig um das Denkmal, sodass es nicht mehr zu sehen war. Auch hier führte die Verhüllung zu einer Enthüllung, zur Diskussion über das Nicht-Sichtbare.
Es bleibt zu hoffen, dass es im historisch angereicherten Tuttlinger Stadtgarten nicht nur mehr Leben in Form eines Boule-Platzes, eines Garten-Cafes,  vielleicht mit einem Musikpavillon geben möge, sondern weiterhin auch Kunstaktionen, die sich mit dieser Tuttlinger Besonderheit gestalterisch auseinandersetzen.

Hellmut Dinkelaker
(Kunsterzieher am IKG-Tuttlingen, Vorstandsmitglied im Heimatforum
Vors. der SPD-Gemeinderatsfraktion Tuttlingen)                                                    2013 aufgeschrieben

Text des Liedes:

Max Schneckenburger: die Wacht am Rhein,  1840

Max Schneckenburger (4)
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall,
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

Durch Hunderttausend zuckt es schnell,
Und aller Augen blitzen hell;
Der Deutsche, bieder, fromm und stark,
Beschützt die heil’ge Landesmark.
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

Er blickt hinauf in Himmelsau’n,
Da Heldenväter niederschau’n,
Und schwört mit stolzer Kampfeslust:
Der Rhein bleibt Deutsch wie meine Brust!
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

So lang ein Tropfen Blut noch glüht,
Noch eine Faust den Degen zieht,
Und noch ein Arm die Büchse spannt
Betritt kein Feind hier deinen Strand!
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
Die Fahnen flattern hoch im Wind:
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein,
Wir alle wollen Hüter sein!
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.


Das scheint die Originalversion zu sein.
Eine - in Teilen aggressivere und plumpere -  Version mit zwei weiteren Versen findet man z.B. im Volksliedarchiv von ‘ingeb.org’.

Quellen:
Geschichte der Stadt Tuttlingen 1997 Gunda Woll u.a.
Gränzbote, Schwarzwälder Bote Mitte Mai 1986
Irmgard Bosch Festvortrag zum 30.Todestags ihres Vaters FvG, Gerlingen 1989

Copyright und Fotos:
Urheberrecht des Textes liegt bei Hellmut Dinkelaker, Tuttlinger, der die Veröffentlichung an dieser Stelle dankenswerterweise autorisiert hat.
Der Text des Liedes "Die Wacht am Rhein" ist gemeinfrei.
(1) Das Filmplakat zu Casablanca ist in den USA gemeinfrei, in Deutschland zeigen wir es nach den Richtlinien des "fair use"
(2) 'Germania 1892' ist vermutlich gemeinfrei, da es deutlich über 100 Jahre als ist.
(3) Die Stiftung Fritz von Graevenitz stimmt der Veröffentlichung dieses Fotos unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation (GFDL) zu.
(4) Die Abbildung der Medaille von Max Schneckenburger stammt von Wikipedia (unbekannter Autor) CC-BY-SA 3.0. Die Medaille selbst war Teil des Germania-Denkmals von dem Bildhauer Adolf Jahn und ist im Eigentum des Heimatmuseums Tuttlingen.
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