Freitag, 1. Mai 2020

Tuttlinger Epidemien 1349-1919


Wie häufig und wie heftig Tuttlingen unter Epidemien litt, ist wahrscheinlich weitgehend in Vergessenheit geraten. Nur tief einschneidende Ereignisse sind in den Chroniken dokumentiert.

Pest

So wurde Tuttlingen nachweislich zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert immer wieder von der Pest heimgesucht. 1349 starb etwa ein Drittel der Bevölkerung. Es bleibt der Fantasie überlassen, wie schrecklich dieses Ereignis war, denn die Oberamtsbeschreibung, die hierzu als Quelle dient, beschreibt das Ereignis sehr nüchtern.  Anders die Pestepidemie von 1635, die während des Dreißigjährigen Krieges wütete. Panik und Fake News griffen um sich. Es gab die mündliche Überlieferung, die gesamte Bevölkerung von Emmingen sei der Pest zum Opfer gefallen. Tatsächlich erinnern Pestkreuze noch heute daran, dass von den 500 Einwohnern nur jeder Vierte überlebte. Im September kam die Krankheit nach Tuttlingen und breitete sich rasant aus. In einem Jahr starben 546 Menschen, was bei einer Bevölkerung von 1.800 eine ungeheure Menge darstellte. Dem Totengräber wurden zwei Maurer als Gehilfen zur Seite gestellt. Eines Tages, als sie fertig waren, die Gräber für den Tag anzulegen, schlug einer vor, doch gleich ein weiteres Grab auszuheben, denn es würde ja ohnehin in Kürze gebraucht. Er schaufelte, ohne es zu wissen, sein eigenes Grab, denn er selbst war der nächste Tote, den die Epidemie traf. Das öffentliche Leben kam zum Stillstand, nicht aus Angst vor einer Ansteckung, sondern weil die Menschen mit der Unausweichlichkeit dieser Krankheit konfrontiert waren. Selbst unter den Kindern breite sich ein Fatalismus aus:
Kinder die auf der Gaß spilten haben offt scherzweis einand gefragt: Welches wird man morgen under uns begraben? Damit ists geschehen, dass andern Tags 2, 3, 4 gefehlt und gestorben sind.
Am 15. Oktober 1635 starben 14 Menschen, aber für einen heutigen Leser sind das nur Zahlen. Bildlich wird das erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Leute damals nicht mehr arbeiteten, zu Hause saßen und auf den Tod warteten, der sie im eigenen Haus, in der eigenen Familie ganz sicher heimsuchen würde – eine schreckliche und unvorstellbare Situation. Man versprach sich, sich gegenseitig zu bestatten. Was würden wir da tun?

Scharlach

In den Jahren 1906 und 1907 war Tuttlingen das Zentrum einer Scharlachepidemie. Der damalige Oberamtsarzt Dr. Klaus erinnert sich in den Heimatblättern von 1940. Scharlach, für das es bis heute keinen Impfstoff gibt, ist schon zwei Tage vor Auftreten von Symptomen ansteckend. Als man in Tuttlingen über die Eindämmung der Epidemie beriet, war es bereits zu spät. Die Kinderkrankheit hatte die Stadt bereits durchdrungen, Selbst die Schulschließung wurde aufgehoben. Eine offizielle Zählung von Fällen und Toten gab es nicht, aber Dr. Klaus durchforstete später die Kirchenbücher und ermittelte etwa 120 Scharlachopfer. Hinzu kämen wohl noch einige „Vorerkrankte“. Außerdem berichtet er von Spätfolgen, so habe es 1940 noch zahlreiche Fälle von chronischer Mittelohrentzündung in Tuttlingen gegeben, die durch eine Scharlacherkrankung hervorgerufen wurde. Dr. Klaus‘ Beschreibung ist ein seltenes Dokument, was man daran erkennt, dass er vom Hörensagen berichtet, dass solche Scharlachepidemien immer wieder im Abstand von 20-25 Jahren nach Tuttlingen gekommen seien. Schon 1914 kam der Scharlach erneut nach Tuttlingen, doch diesmal reagierte man schneller auf die Krankheit und führte einen Isolationszwang ein, also eine Quarantäne und richtete in der Frauenarbeitsschule ein Kinderlazarett ein.

Schwarze Pocken

Noch moderner mutet Dr. Kochs Beschreibung der Pockenepidemie von 1919 an. Die Pocken gelten seit 1980 dank erfolgreicher Massenimpfung als ausgerottet, doch damals waren die Schwarzen Pocken (das ist die hämorrhagische Form) sehr gefährlich, im schlimmsten Fall tödlich. Als Oberamtsarzt wurde Dr. Koch selbst zur Konsultation eines Falles herbeigezogen, den er sofort als Schwarze Pocken identifizierte. Gleichzeitig handelte es sich bei der betroffenen Frau um Patient Null in Tuttlingen. Angesteckt hatte sie sich bei einer Beerdigung einer an Pocken verstorbenen Person in Kreenheinstetten, die sich den Bazillus aus alten Soldatenkleidern eingefangen hatten. Sofort wurden alle Personen identifiziert, mit denen die Tuttlinger Patientin Kontakt hatte. Sie wurden untersucht und entweder sofort ins Krankenhaus eingeliefert oder unter Quarantäne gestellt. Im Krankenhaus wurde eine abgeschottete Pockenstation eingerichtet und ohne das ungewöhnliche Engagement des Pflegepersonals wäre das wohl nicht zu meistern gewesen: Schwester Frieda Kühner meldete sich freiwillig zur Betreuung der Kranken und durfte die Station, die nur über einen separaten Eingang zugänglich war, nicht mehr verlassen. Ob sie dafür nur etwa Anerkennung oder auch eine finanzielle Belohnung bekommen hat, wurde nicht berichtet. Doch ohne Impfung lauerte nach wie vor die Gefahr, dass sich die Krankheit weiter ausbreitete. Die Tuttlinger waren nach den schweren Kriegsjahren müde und abgestumpft und gierten erst dann nach der rettenden Impfung, als ein bekannter Bürger mit der Krankheit infiziert war.

Bild 1 zeigt eine Augsburger Pesttafel aus dem 17. Jahrhundert. Das Bild ist gemeinfrei
Bild 2 zeigt das Titelblatt der Tuttlinger Heimatblätter (Alte Folge 33) vom März 1940, das der heimische Zeichenlehrer Xaver Bucher gestaltete.

Freitag, 7. Oktober 2016

Gastbeitrag: das Reiterdenkmal im Tuttlinger Stadtgarten

Der folgende Text wurde dankenswerterweise von Hellmut Dinkelaker zur Verfügung gestellt. Aktuelle Bezüge im Text beziehen sich auf das Jahr 2013, in dem der Text aufgeschrieben wurde:

Was der Film ‚Casablanca’ und das Reiterdenkmal im Tuttlinger Stadtgarten miteinander zu tun haben…

Wenn in diesen Wochen erneut über die Zukunft des Tuttlinger Stadtgartens diskutiert wird, wenn der Kneipenpavillon verschwindet, dessen Beseitigung durch eine Übergangsphase als Gelber Würfel mit Informationsfunktion für den Masterplan noch ein wenig hinausgezögert wurde, dann erscheint es wichtig, sich der Geschichte des Platzes und des Denkmals, nach dem er über viele Jahrzehnte genannt wurde, bewusst zu werden.

Filmplakat Casablanca (1)
Der ‚Denkmalplatz’ wurde im Juni 1892 angelegt und die Donau wurde dafür eigens zwischen Bahnhof und Stadtzentrum verlegt. Zwei konkurrierende Denkmal-Komitees, eines in Stuttgart unter der Leitung von Prinz Hermann von Sachsen-Weimar und eines in Tuttlingen, hatten in den 80er Jahren des 19.Jahrhunderts aufgerufen zu Spenden, um eines Amateur-Dichters zu gedenken, der kaum eine handvoll Gedichte geschrieben hatte, die meiste Zeit in der Schweiz lebte und mit 30 Jahren verstarb. Dass jener Max Schnekenburger aus Thalheim bei Tuttlingen der Vers-Dichter des Liedes von der „Wacht am Rhein“ war, wusste lange Zeit niemand, aber das Lied war so bekannt und vor allem auch musikalisch so mitreissend, dass es im 1870er Krieg gegen Frankreich eine Art heimliche Nationalhymne wurde. Bismarck soll 1893 gesagt haben, das Lied (auf den Lippen der vorwärts stürmenden Soldaten) habe damals den Wert mehrerer Armeekorps aufgewogen. Einen Gänsehaut auslösenden Eindruck von der Kraft dieser Art „Volks-Lieder“ kann man bekommen im Film Casablanca mit Humphrey Bogart, wo in einer Kneipe im noch-freien französisch besetzten Casablanca erst eine Gruppe betrunkener deutscher Soldaten und Zivilisten das Lied von der Wacht am Rhein anstimmt, bis dann die anderen Gäste, die Kellnerinnen und Asylanten die Marseillaise anstimmen und die deutschen Unsympathlinge sozusagen im Sängerwettstreit überstimmen. Beide Hymnen übrigens schenken sich textlich nichts, was Blutrünstigkeit und dumpfen Nationalismus angeht…

Tuttlingen hatte ja – außer jenem legendenhaften Rotgerbergesellen, der als ‚Kannitverstan’ eine gewisse Berühmtheit erlangte – keine Persönlichkeit vorzuweisen, die es irgendwie zu nationaler Bekanntheit gebracht hätte.
Da kam der Max Schnekenburger, obzwar aus Thalheim, gerade recht. „Damit hatte das provinzielle Tuttlingen einen hinreichend würdigen Repräsentanten, in dessen Verehrung die Stadt die Idee des durch den Krieg gegen Frankreich und unter Preußens Krone geeinten Reiches aneignen und in eine ferne Zukunft hinein tradieren konnte“,  wird Friedemann Schmoll, Augsburg/Jena,  zitiert.

Germania 1892 (2)
Jedenfalls wurde genug Geld gesammelt und 1892 konnte mit der Einweihung des Denkmalplatzes auch eine über 6m hohe bronzene Germania-Statue enthüllt werden, die fortan als „theatralisches Monument nationaler Gesinnung“ (Geschichte der Stadt Tuttlingen 1997) diente.
Die dafür neu angelegte Kaiserstrasse läuft direkt auf das Monument zu, sie wird flankiert von Bismarck-, Moltke-, Friedrich- und Werderstrasse (General Werder hat 1870 Straßburg erobert), und nach dem Prinzen von Sachsen-Weimar wird die Weimarstrasse benannt, eine Bismarck- und eine Moltke-Eiche werden auf dem Platz gepflanzt. Die Anlage wird noch ‚bekrönt’ von den Eckhäusern Kaiserhof und Rheinischer Hof.
Es gibt wenig Erkenntnisse über den Denkmalplatz im Laufe der weiteren Jahre, aber 1911 soll hier zum ersten Mal im großen Stil eine elektrische Illumination des ganzen Platzes stattgefunden haben, was große Menschenmassen abends zum Flanieren im ganz neuen, gleißenden Elektro-Licht auf den Platz gebracht habe.

Schon 1918 war nicht nur die Denkmalsherrlichkeit zu Ende, als die Germania für den schon verlorenen Krieg eingeschmolzen wurde. Der Wilhelminismus war fertig, nicht aber, wie man im Lauf des 20.Jahrhunderts sehen sollte, nationalistisches Gedankengut.
Um 1930 herum stellten Mitglieder des Tuttlinger Heimatpflegevereins Überlegungen darüber an, wie man an gleicher Stelle wieder ein Denkmal für Max Schnekenburger und sein Lied errichten könne. Der Stuttgarter Akademieprofesser Fritz von Graevenitz wurde beauftragt. Graevenitz war ein im 1. Weltkrieg schwer verwundeter Bildhauer, der seine Lektion gelernt hatte, wie seine Tochter berichtete. Irmgard Bosch leitete auf der Stuttgarter Solitude ein Graevenitz-Museum und sollte später im Zusammenhang mit der Tuttlinger Skulptur noch eine Rolle spielen.


Graevenitz entwarf ein Gipsmodell, das drei Reiter darstellt, die in unterschiedlichen Haltungen im Galopp in eine Richtung reiten. Bei Crailsheim in einem Steinbruch erwarb er einen hohen schmalen Muschelkalkblock, aus dem dann die Reitergruppe entstand, die heute noch im Tuttlinger Stadtgarten steht. 1940 wurde sie aufgestellt, es gab keine Einweihung, sei es, weil man gerade mit anderen Dingen beschäftigt war (Frankreich überfallen) oder weil das Werk den damals in Tuttlingen regierenden Nazis zu unheroisch, zu wenig kämpferisch war.
Man sieht drei etwa lebensgroße, gänzlich nackte junge männliche Reiter auf galoppierende Pferden, auf einem Sockel, der als aufgewirbelter Staub gedeutet werden kann. In der Mitte ein aufgerichteter Mann, der nach links blickt und den Mund geöffnet hat. Er scheint etwas zu rufen, sitzt tadellos auf dem Pferd, das sicher vorwärts ausgreift. Vorne ein weit über den nach unten gebogenen Pferdehals gebeugter junger Mann, fast artistisch oder wagemutig sich haltend oder gerade dabei, über das sich vergaloppierende Pferd nach vorne zu stürzen. Hinten ein weiterer junger Mann, der eine Buckel macht, als ob er das Pferd heftig am Zügel reisst, um es zu zügeln. Apropos Zügel: man findet keinerlei Andeutungen von Zügeln, Steigbügeln, Sporen, gar von Militärischem. Es könnten auch drei junge Reiter auf halbwilden Pferden in der Camargue sein. Sie reiten nach Westen, also wohl schon zum Rhein, den Max Schnekenburger als eherne deutsche Grenze sah. Der Muschelkalk dieser Skulptur ist je nach Witterung beige oder grau, er zeigt Spuren der Zeit, gehört mal wieder vorsichtig abgestrahlt. Auf dem von vorne gesehen überraschend schmalen Werk ist eine kleine Tafel angebracht, die an Max Schnekenburger und sein Lied erinnert. Die Blumenanlage kreisförmig drumherum, die die Stadtgärtnerei immer wieder schön gestaltet, verhindert den direkten Zugang vom rundum verlaufenden Kalkweg, an dessen Rändern Bänke zum Verweilen einladen. Das Reiterdenkmal steht mitten im Platz, die Wegeanlage ist geometrisch rechtwinklig geordnet im Stil des Klassizismus,  allerdings wurde irgendwann der Macht des Faktischen nachgegeben und eine Diagonale vom Sängersteg zu den Bushaltestellen Richtung Bahnhofstrasse angelegt, weil die vielen Schüler jeden Tag hier eben so laufen.

Sind der Platz und das Denkmal nationalistisch, ist es gar Nazi-Kunst, kann oder sollte man es in eine Ecke setzen, ganz loswerden? 

Zunächst ist es historisch aufgeladen, erinnert an Zeiten, in denen – erklärlich wie unerklärlich – Feindschaft herrschte zwischen Deutschland und Frankreich, in denen Krieg als Mittel der Politik salonfähig war. Es verweist auf ein Stück Stadtgeschichte, wo man wegen eines einzigen Liedes die Donau verlegte, Straßen anlegte und benannte, wo man zivilisatorischen Fortschritt feierte. Und es ist als Skulptur aus dem Dritten Reich  in einer merkwürdig zivilen Weise gestaltet, die so gar nichts mit „Schwertgeklirr und Wogenprall“ zu tun hat, wie der Text, an den sie erinnern soll. Eine Art lyrischer Realismus, wie oft im Werk von Graevenitz.
Fritz von Graevenitz (3)
Dieser Künstler war, so ist aus einem Vortrag seiner Tochter Irmgard Bosch aus dem Jahr 1989, zu verstehen, hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf ein neues Deutschland unter Hitler, den er 1935 portraitierte, und der Ablehnung des Krieges und seiner Folgen. 1940 war eine Figur von Graevenitz’ im Haus der Deutschen Kunst in München zu sehen und es ist fast schon rührend zu lesen, dass die Tatsache, dass der nackte Jüngling mit Schwert die eine Hand begütigend nach vorne ausstreckt während sein Schwert seitlich gesenkt mit der Spitze auf dem Boden steht, für Graevenitz schon eine fast wagemutige Aussage war in einem Deutschland, das damals gerade mehrere Nachbarländer überfiel. Dass Künstler wie Maillol, die Graevenitz verehrte, unter den Nazis als ‚entartet’ diffamiert wurden, muss ihn sehr verstört haben.
Immerhin war Graevenitz bis zum Kriegsende Direktor der Kunstakademie Stuttgart und wurde dann von der Kultusverwaltung unter der Militärregierung eingesetzt um einen Wiederanfang der Akademie zu organisieren. Da sich aber die neuen Kräfte, d.h. vor allem die Künstler der Abstraktion, die jedwede Figürlichkeit und jeden Realismus erstmal aus guten Gründen ablehnten, formierten, sah er für sich keinen Platz mehr im Akademiebetrieb. Graevenitz wurde auch gleich nach Kriegsende in den ersten Notgemeinderat in Gerlingen berufen, was dafür spricht, dass er nicht nationalsozialistisch ‚belastet’ war.

Insofern ist das Reiterdenkmal und auch dessen Schöpfer sicher ein Anlass, die komplexe Geschichte Deutschlands so klar und so differenziert, wie sie es verdient hat, zu studieren. Schon deshalb sollte man sich in Tuttlingen im Bewusstsein der geschichtlichen Bedeutung mit dem Denkmalplatz und dem Denkmal angemessen beschäftigen, statt es irgendwo in die Ecke und den Platz als solchen in Frage stellen.

1986 konnte der Verfasser dieser Zeilen mit engagierten Schülern eines Kunst-Grundkurses am IKG ein Projekt starten, dessen Ergebnis die Verhüllung (a la Christo) des Reiterdenkmals war. Nach umfangreichen Recherchen und künstlerischen Entwürfen verpackten die etwa 20 Oberstufler und ihr Lehrer das Denkmal mit einer weißen Plane. Der damalige Heimatmuseumsleiter Karl-Heinz Müller begleitete die Aktion distanziert wohlwollend und die anschließende lebhafte Zeitungsdiskussion und historische Aufarbeitung war für die Beteiligten unerwartet und lehrreich. Leider rissen Unbekannte nach wenigen Tagen die Plane weg und die Aktion musste beendet werden bevor man sich richtig damit auseinander setzen konnte. Im Laufe der Recherchen waren die Schüler über Kontakte zu Graevenitz’ Tochter Irmgard Bosch auf die Verwandtschaft des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu seinem Onkel Fritz von Graevenitz gestossen. Da Richard von Weizsäcker 1920 geboren wurde, hätte es durchaus sein können, dass er  für das Reiterdenkmal seinem Onkel Modell gestanden bzw. gesessen hatte, so war die Spekulation. Man schrieb also einen wohlgesetzten Brief an den Bundespräsidenten mit der entsprechenden Frage.
Etwa eine Woche später wurde der Lehrer von der aufgeregten Schulsekretärin gerufen – ein Brief vom Bundespräsidenten!. Mit spitzen Fingern wurde der Brief geöffnet, schweres Papier, Prägedruck, ausführliche Antwort: nein, er könne mit Sicherheit sagen, dass er damals nicht  Modell für das Reiterdenkmal gestanden sei. Aber er fände das Projekt sehr interessant und wünsche gutes Gelingen. Schade, Tuttlingen hätte mit dem Schnekenburger-Denkmal auch ein Bundespräsidenten-Denkmal gehabt…
Im Rahmen einer Kunstaktion von Karlsruher Akademiestudenten anlässlich der Trilogie Stadt-Park-Fluß 2003  wurde das Schnekenburger-Denkmal wieder Thema: ein Künstler baute einen hohen Lattenzaun tonnenartig um das Denkmal, sodass es nicht mehr zu sehen war. Auch hier führte die Verhüllung zu einer Enthüllung, zur Diskussion über das Nicht-Sichtbare.
Es bleibt zu hoffen, dass es im historisch angereicherten Tuttlinger Stadtgarten nicht nur mehr Leben in Form eines Boule-Platzes, eines Garten-Cafes,  vielleicht mit einem Musikpavillon geben möge, sondern weiterhin auch Kunstaktionen, die sich mit dieser Tuttlinger Besonderheit gestalterisch auseinandersetzen.

Hellmut Dinkelaker
(Kunsterzieher am IKG-Tuttlingen, Vorstandsmitglied im Heimatforum
Vors. der SPD-Gemeinderatsfraktion Tuttlingen)                                                    2013 aufgeschrieben

Text des Liedes:

Max Schneckenburger: die Wacht am Rhein,  1840

Max Schneckenburger (4)
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall,
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

Durch Hunderttausend zuckt es schnell,
Und aller Augen blitzen hell;
Der Deutsche, bieder, fromm und stark,
Beschützt die heil’ge Landesmark.
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

Er blickt hinauf in Himmelsau’n,
Da Heldenväter niederschau’n,
Und schwört mit stolzer Kampfeslust:
Der Rhein bleibt Deutsch wie meine Brust!
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

So lang ein Tropfen Blut noch glüht,
Noch eine Faust den Degen zieht,
Und noch ein Arm die Büchse spannt
Betritt kein Feind hier deinen Strand!
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.

Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
Die Fahnen flattern hoch im Wind:
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein,
Wir alle wollen Hüter sein!
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.


Das scheint die Originalversion zu sein.
Eine - in Teilen aggressivere und plumpere -  Version mit zwei weiteren Versen findet man z.B. im Volksliedarchiv von ‘ingeb.org’.

Quellen:
Geschichte der Stadt Tuttlingen 1997 Gunda Woll u.a.
Gränzbote, Schwarzwälder Bote Mitte Mai 1986
Irmgard Bosch Festvortrag zum 30.Todestags ihres Vaters FvG, Gerlingen 1989

Copyright und Fotos:
Urheberrecht des Textes liegt bei Hellmut Dinkelaker, Tuttlinger, der die Veröffentlichung an dieser Stelle dankenswerterweise autorisiert hat.
Der Text des Liedes "Die Wacht am Rhein" ist gemeinfrei.
(1) Das Filmplakat zu Casablanca ist in den USA gemeinfrei, in Deutschland zeigen wir es nach den Richtlinien des "fair use"
(2) 'Germania 1892' ist vermutlich gemeinfrei, da es deutlich über 100 Jahre als ist.
(3) Die Stiftung Fritz von Graevenitz stimmt der Veröffentlichung dieses Fotos unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation (GFDL) zu.
(4) Die Abbildung der Medaille von Max Schneckenburger stammt von Wikipedia (unbekannter Autor) CC-BY-SA 3.0. Die Medaille selbst war Teil des Germania-Denkmals von dem Bildhauer Adolf Jahn und ist im Eigentum des Heimatmuseums Tuttlingen.
Das Copyright der übrigen Fotos liegt wie immer beim Betreiber des Blogs.

Dienstag, 29. Dezember 2015

Ein Tuttlinger Haus von 1804

1804 begann der Wiederaufbau der am 1. November 1803 komplett abgebrannten Innenstadt von Tuttlingen. Die Architektur der Häuser richtete sich neben Funktionalität vor allem am Brandschutz aus.


Ein typisches Haus, wie es nach dem Brand errichtet wurde hat Charakteristika, die man auch heute noch deutlich sehen kann: die Häuser waren durch Feuergassen voneinander getrennt und das Dach musste auf allen Seiten mit Ziegeln geschlossen sein. Diese Dachform nennt man heute noch Tuttlinger Hut. Heutzutage finden sich jedoch Öffnungen wie Dachfenster oder Gauben darin. Heute nicht mehr so deutlich sichtbar ist die Vorschrift, dass das Erdgeschloss komplett aus Stein bestehen musste, darüber war Holz als Baumaterial erlaubt, allerdings nicht als Sichtfachwerk.
Oft entstanden Häuser, die - wie dieses hier - unten eine Scheuer hatten, von der heute noch das zu erahnende Tor erhalten geblieben ist. In Tuttlingen gab es sehr viel Stockwerkeigentum (vergleichbar mit heutigen Eigentumswohnungen), was hier im ersten und zweiten Stock sehr wahrscheinlich ist; es scheinen hier also zwei Familien gewohnt zu haben.

Donnerstag, 17. April 2014

Bootstaufe des Tuttlinger Heimatforum

Dieser historische Abriss behandelt ein Ereignis, das noch gar nicht stattgefunden hat: die Bootstaufe am Weißen Sonntag 2014. Das Heimatforum Tuttlingen hat zwei neue Boote angeschafft. Ein blaues und ein gelbes Boot warten auf ihre Taufe am 27. April. Alle Bürger sind ab 14:00 zum Anrudern, Kinderprogramm und Kaffee und Kuchen eingeladen.


1998 wurde die Bootsverleihanlage eröffnet. Günter Hermann übernahm die Architektur, das Heimatforum initiierte und organisierte die Spendensammlung. Neben dem Kulturhaus Altes Krematorium und der "Eigenverwaltung" ist der Bootsverleih der dritte Geschäftsbereich des Heimatforums, das derzeit in spannender Erwartung seines 400. Mitglieds ist.
Noch sind die neuen Tretboote namenlos. Die Anschaffung war notwendig geworden, da ein Boot ausgemustert werden muss. Der Traum, ein Boot in Schwanenform zu erwerben, konnte aus finanziellen Gründen leider nicht umgesetzt werden.
Weitere Infos auf der Homepage des Heimatforums: www.heimatforum-tuttlingen.de

Mittwoch, 9. April 2014

Der Denkmalsplatz - heute Stadtgarten

Erst das Denkmal, dann der Platz: bereits 1885 wurde beschlossen, Max Schneckenburger aus Talheim für sein Gedicht "Die Wacht am Rhein" ein Denkmal zu setzen.
Gleichzeitig war vorgesehen, die Donau, die hier bislang direkt an der Bahnhofstraße verlief, zu verlegen.
Im Sommer 1891 wurde das Gebiet des Stadtgartens durch die Donauverlegung gewonnen. Am 19. Juni 1892 wurde das Denkmal eingeweiht. Es ist der unermüdlichen Spendensammlung von Prinz Hermann von Sachsen-Weimar-Eisenach zu verdanken, dass das Denkmal finanziert werden konnte. Um diesem Dank Ausdruck zu verleihen, wurde die neu entstandene Straße entlang der Donau ihm zu Ehren Weimarstraße genannt.



Die Abbildung ist von Gebhard Gagg (1838-1921) und somit gemeinfrei.

Im April 1888 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Gewinner des Wettbewerbs war der noch junge Künstler Adolf Jahn, der diese 3,20 Meter große Germania-Figur schuf. Am 21. Juni 1918, also in der Endphase des Ersten Weltkriegs, wurde die Bronzefigur abgeholt und eingeschmolzen, um Kanonen herzustellen.
Der nackte Sockel mit Schneckenburgers Portrait blieb stehen und es dauerte 22 Jahren, bis Fritz von Graevenitz das neue Max-Schneckenburger-Denkmal schuf, das heute noch an dieser Stelle steht.
Fotos der noch existierenden Nachbildung der Figur, die damals Prinz von Weimar zum Geschenk gemacht wurde und die heute in Talheim (Schneckenburgers Geburtsort) steht, finden sich auf der Seite von Marcus Jahn, die er zum Gedenken an seinen Urgroßvater erstellt hat:
http://www.adolf-jahn.de/unterseiten/werke-1.html

Trivia: bei facebook kann man neben dem Stadtgarten auch den Denkmalsplatz besuchen.

Montag, 24. März 2014

Ehemaliges Zollamt

Noch befindet sich hier das Zentrum für Arbeitslose. Das Angebot könnte aber bald eingestellt werden.


Das Gebäude wurde 1903 als Königliches Zollamt erbaut, wie es in goldenen Lettern noch über dem Eingang prangt. Es bildet mit dem grünen Nachbargebäude, dem Forstamt, ein architektonisches Ensemble. Entworfen hat beide Gebäude der Architekt Mayser.

Freitag, 14. März 2014

Vor dem Bau der katholischen Kirche St. Gallus

Im 16. Jahrhundert wurde Tuttlingen durch den württembergischen Herzog Ulrich reformiert. Ambrosius Blarer wirkte als Reformator. Beiden Persönlichkeiten ist in Tuttlingen eine Straße gewidmet. Bis in die 1870er hatte Tuttlingen keine katholische Kirche.


Die Geschichte der katholischen Kirche beginnt bereits im Jahre 1862. Der Wunsch, für die 345 Katholiken in Tuttlingen eine Kirche zu errichten wird vom bischöflichen Ordinariat wie vom Gemeinderat abschlägig beschieden. Es kann nicht einmal ein Raum angeboten werden. 1864 rührt sich schon der erste Missmut gegen die Spendensammlung für das Projekt. Ein Gebäude wird erworben, aber wegen fehlender Genehmigung wieder veräußert. Die Bitte um ein Grundstück wird vom Gemeinderat wieder abgelehnt. Er erlaubt aber die Spendensammlung. 1865 schwebt die Idee im Raum, den Fruchtkasten zur Kirche zu machen. Aber diese wird aus Kostengründen wieder verworfen. Endlich 1865 findet sich ein Grundstück, das erworben werden kann, obwohl es nicht ganz ideal ist. Das Tuttlinger Kirchenbaukomitee wird gegründet und 1869 schließlich erfolgt die Grundsteinlegung.