Wie häufig und wie heftig Tuttlingen unter Epidemien litt, ist wahrscheinlich weitgehend in Vergessenheit geraten. Nur tief einschneidende Ereignisse sind in den Chroniken dokumentiert.
Pest
So wurde Tuttlingen nachweislich zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert immer wieder von der Pest heimgesucht. 1349 starb etwa ein Drittel der Bevölkerung. Es bleibt der Fantasie überlassen, wie schrecklich dieses Ereignis war, denn die Oberamtsbeschreibung, die hierzu als Quelle dient, beschreibt das Ereignis sehr nüchtern. Anders die Pestepidemie von 1635, die während des Dreißigjährigen Krieges wütete. Panik und Fake News griffen um sich. Es gab die mündliche Überlieferung, die gesamte Bevölkerung von Emmingen sei der Pest zum Opfer gefallen. Tatsächlich erinnern Pestkreuze noch heute daran, dass von den 500 Einwohnern nur jeder Vierte überlebte. Im September kam die Krankheit nach Tuttlingen und breitete sich rasant aus. In einem Jahr starben 546 Menschen, was bei einer Bevölkerung von 1.800 eine ungeheure Menge darstellte. Dem Totengräber wurden zwei Maurer als Gehilfen zur Seite gestellt. Eines Tages, als sie fertig waren, die Gräber für den Tag anzulegen, schlug einer vor, doch gleich ein weiteres Grab auszuheben, denn es würde ja ohnehin in Kürze gebraucht. Er schaufelte, ohne es zu wissen, sein eigenes Grab, denn er selbst war der nächste Tote, den die Epidemie traf. Das öffentliche Leben kam zum Stillstand, nicht aus Angst vor einer Ansteckung, sondern weil die Menschen mit der Unausweichlichkeit dieser Krankheit konfrontiert waren. Selbst unter den Kindern breite sich ein Fatalismus aus:Kinder die auf der Gaß spilten haben offt scherzweis einand gefragt: Welches wird man morgen under uns begraben? Damit ists geschehen, dass andern Tags 2, 3, 4 gefehlt und gestorben sind.Am 15. Oktober 1635 starben 14 Menschen, aber für einen heutigen Leser sind das nur Zahlen. Bildlich wird das erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Leute damals nicht mehr arbeiteten, zu Hause saßen und auf den Tod warteten, der sie im eigenen Haus, in der eigenen Familie ganz sicher heimsuchen würde – eine schreckliche und unvorstellbare Situation. Man versprach sich, sich gegenseitig zu bestatten. Was würden wir da tun?
Scharlach
In den Jahren 1906 und 1907 war Tuttlingen das Zentrum einer Scharlachepidemie. Der damalige Oberamtsarzt Dr. Klaus erinnert sich in den Heimatblättern von 1940. Scharlach, für das es bis heute keinen Impfstoff gibt, ist schon zwei Tage vor Auftreten von Symptomen ansteckend. Als man in Tuttlingen über die Eindämmung der Epidemie beriet, war es bereits zu spät. Die Kinderkrankheit hatte die Stadt bereits durchdrungen, Selbst die Schulschließung wurde aufgehoben. Eine offizielle Zählung von Fällen und Toten gab es nicht, aber Dr. Klaus durchforstete später die Kirchenbücher und ermittelte etwa 120 Scharlachopfer. Hinzu kämen wohl noch einige „Vorerkrankte“. Außerdem berichtet er von Spätfolgen, so habe es 1940 noch zahlreiche Fälle von chronischer Mittelohrentzündung in Tuttlingen gegeben, die durch eine Scharlacherkrankung hervorgerufen wurde. Dr. Klaus‘ Beschreibung ist ein seltenes Dokument, was man daran erkennt, dass er vom Hörensagen berichtet, dass solche Scharlachepidemien immer wieder im Abstand von 20-25 Jahren nach Tuttlingen gekommen seien. Schon 1914 kam der Scharlach erneut nach Tuttlingen, doch diesmal reagierte man schneller auf die Krankheit und führte einen Isolationszwang ein, also eine Quarantäne und richtete in der Frauenarbeitsschule ein Kinderlazarett ein.Schwarze Pocken
Noch moderner mutet Dr. Kochs Beschreibung der Pockenepidemie von 1919 an. Die Pocken gelten seit 1980 dank erfolgreicher Massenimpfung als ausgerottet, doch damals waren die Schwarzen Pocken (das ist die hämorrhagische Form) sehr gefährlich, im schlimmsten Fall tödlich. Als Oberamtsarzt wurde Dr. Koch selbst zur Konsultation eines Falles herbeigezogen, den er sofort als Schwarze Pocken identifizierte. Gleichzeitig handelte es sich bei der betroffenen Frau um Patient Null in Tuttlingen. Angesteckt hatte sie sich bei einer Beerdigung einer an Pocken verstorbenen Person in Kreenheinstetten, die sich den Bazillus aus alten Soldatenkleidern eingefangen hatten. Sofort wurden alle Personen identifiziert, mit denen die Tuttlinger Patientin Kontakt hatte. Sie wurden untersucht und entweder sofort ins Krankenhaus eingeliefert oder unter Quarantäne gestellt. Im Krankenhaus wurde eine abgeschottete Pockenstation eingerichtet und ohne das ungewöhnliche Engagement des Pflegepersonals wäre das wohl nicht zu meistern gewesen: Schwester Frieda Kühner meldete sich freiwillig zur Betreuung der Kranken und durfte die Station, die nur über einen separaten Eingang zugänglich war, nicht mehr verlassen. Ob sie dafür nur etwa Anerkennung oder auch eine finanzielle Belohnung bekommen hat, wurde nicht berichtet. Doch ohne Impfung lauerte nach wie vor die Gefahr, dass sich die Krankheit weiter ausbreitete. Die Tuttlinger waren nach den schweren Kriegsjahren müde und abgestumpft und gierten erst dann nach der rettenden Impfung, als ein bekannter Bürger mit der Krankheit infiziert war.Bild 1 zeigt eine Augsburger Pesttafel aus dem 17. Jahrhundert. Das Bild ist gemeinfrei
Bild 2 zeigt das Titelblatt der Tuttlinger Heimatblätter (Alte Folge 33) vom März 1940, das der heimische Zeichenlehrer Xaver Bucher gestaltete.
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